Giulia hatte nur ihr Ziel vor Augen, als sie sich mühsam die endlose Treppe hinaufkämpfte. Noch fünfzig Meter, schätzte sie. Keuchend vor Anstrengung blieb sie stehen, um Kraft für das letzte Stück zu sammeln. Sie legte den Kopf in den Nacken und beobachtete einen Raubvogel, der hoch über ihr seine Kreise zog, unberührt von der drückenden Hitze, während ihr selbst der Schweiß aus allen Poren rann. Sie beneidete ihn um die Leichtigkeit, mit der er am Himmel schwebte, bevor er ohne Abschied zu den kühleren Hängen des Himalajas davonflog.
Sie holte die Wasserflasche aus ihrer Umhängetasche hervor und schüttete sich die kühlende Flüssigkeit über Haare und Nacken; einen kleinen Rest sparte sie auf, mit dem sie ihr Gesicht befeuchtete. Nachdem sie die leere Flasche zurück in ihre gewebte Umhängetasche gestopft hatte, nahm sie das letzte Stück der Treppe in Angriff, zwei Stufen auf einmal, mit der für sie typischen Verbissenheit. Es dauerte nicht lange, bis sie den großen Stupa von Svayambhunath auf der Kuppe des Hügels erreicht hatte. Auf den oberen Teil des glockenförmigen Stupa waren die geschwungenen Augen des Buddha gemalt; schöne Augen, aber die Gleichgültigkeit, mit der sie in die Ferne blickten, enttäuschte Giulia. Nachdem sie sich bei brütender Hitze mehr als vierhundert Stufen heraufgequält hatte, stand ihr, so fand sie, mehr Aufmerksamkeit zu.
Sie wandte sich ab und setzte sich auf eine Mauer, unter ihr das weite Tal von Kathmandu. Die Luft war so diesig, dass sie die Stadt kaum sehen konnte. Von den schneebedeckten Siebentausendern im Norden waren nicht einmal die Umrisse auszumachen. Obwohl Giulia angesichts der herrschenden Wetterverhältnisse wenig Hoffnung gehabt hatte, den Hauptkamm des Himalaja zu sehen, war dies eine weitere Enttäuschung.
Es war kein guter Tag, und sie befürchtete, dass er noch richtig schlimm werden würde. Giulia Morosini fürchtete sich nicht vor Auseinandersetzungen, aber ihr graute davor, den Menschen zu verletzen, den sie am meisten liebte. Manchmal kam es ihr vor, als ob sie dazu bestimmt sei, auf ihrem Weg durchs Leben nichts als Trümmer zu hinterlassen.
Sie stöberte erneut in ihrer Tasche, bis sie die currygelbe Pappschachtel fand: einheimische Zigaretten der Marke Yak. Es war ihr egal, dass sie scheußlich schmeckten und der Rauch im Hals kratzte, solange sie damit ihre Nervosität bekämpfen konnte. Sie war nach Svayambhunath gekommen, um in der Abgeschiedenheit des Tempels nachzudenken und endlich die Entscheidung zu fällen, vor der sie sich seit Wochen drückte. Die lange Aschespitze ihrer Zigarette fiel herab und landete auf ihre abgetragenen Baumwollbluse und dem dünnen Sarong. Sie war zu tief in ihre Gedanken versunken, um es zu bemerken.
Giulias Dickköpfigkeit und ihr überschäumendes Temperament hatten sie in der Vergangenheit regelmäßig in Schwierigkeiten gebracht und letzten Endes sogar dazu geführt, dass sie sich mit ihrer Familie überworfen und ihr Heimatland verlassen hatte. Doch achtzehn Monate in Asien hatten sie weicher und ruhiger gemacht. Ihre Sicht auf die Welt und ihre Rolle darin hatte sich verändert, sie war bereit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und wiedergutzumachen, was nach all der Zeit noch zu retten war. Leider musste sie, um ihren Frieden zu finden, zuerst einen Krieg anzetteln. Es war pure Ironie, dass ausgerechnet Paul, der einzige Unschuldige, das erste Opfer ihres persönlichen Kreuzzugs werden musste. Alle anderen hatten es nicht besser verdient.
Sie schnippte achtlos den glühenden Zigarettenstummel fort und tastete nach dem kleinen, mit ungeübter Hand aus einem Stück Knochen geschnitzten Walfisch, der an einem Lederband um ihren Hals hing. Ich liebe dich, Paolo, dachte sie. Hoffentlich kannst du mir vergeben, was ich dir antun werde.

 

Fast zwei Stunden saß Giulia reglos auf der Mauer und suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Dilemma, bis sie sich eingestehen musste, dass es keinen gab. Nach einer letzten Zigarette stand sie auf und ging zum Stupa hinüber. Buddhas Augen starrten noch immer unverwandt ins Leere. Giulia streckte die Hand nach einer der zahllosen Gebetsmühlen aus und setzte die zylinderförmige Bronzetrommel mit aller Kraft in Bewegung. Mit unbewegter Miene sah sie zu, wie die Rolle langsamer wurde und wieder zum Stillstand kam.
Giulia hatte keine Wahl, sie konnte nicht länger davonlaufen. Nachdem sie einmal um den Stupa herumgelaufen war, setzte sie sich auf die Stufen eines Nebentempels und stützte ihr Gesicht in die Handflächen. Aus dem Gebäude hinter ihr drang leise eine seltsam schrille Musik: dumpfe Hörner, Schellen und klagende Streichinstrumente. Giulia überlegte, ob sie einen Blick in den Tempel werfen solle, ließ es dann aber bleiben; stattdessen fischte sie einen zerkratzten Federhalter und ein Blatt Papier aus ihrer Tasche. Sie dachte nur kurz nach, bevor sie stockend zu schreiben begann. Die Musik im Tempel schwoll an, und je lauter sie wurde, desto schneller und entschlossener schrieb Giulia. Gerade als sie den Brief beendete, brach auch die Musik ab. Giulia lächelte in die Stille hinein und fragte sich, ob Buddha sie vielleicht doch zur Kenntnis genommen hatte und ihre Sorgen verstand. Wenn nicht, so war es zumindest ein schöner Zufall. Sie faltete das Papier sorgfältig zusammen und steckte es in einen Briefumschlag. Der erste Schritt war getan.
Sie schlüpfte in ihre billigen Plastiksandalen und machte sich an den Abstieg, vorbei an kleinen Schreinen und Dämonenfiguren, die sie auf dem Hinweg gar nicht bemerkt hatte. Vor einer verwitterten Buddhastatue blieb sie stehen und nickte ihr zu: Ein wenig Dankbarkeit konnte nicht schaden.
Die Straße nach Kathmandu war staubig und führte durch brachliegende Felder, deren von der Trockenheit aufgerissene Erde sehnsüchtig auf Regen wartete. Ende Mai war das ländliche Nepal in eine Starre verfallen, aus der es nur die Ankunft des Monsuns erlösen konnte. Sie war froh, als ihr eine Nepalesin in einem grünen Sari entgegenkam, und winkte ihr überschwänglich zu. Die Frau sah sie verständnislos an, grüßte aber zurück.
Erst als Giulia die Altstadt erreichte und in den Schatten der festungsartigen Häuser eintauchte, kam sie wieder unter Menschen. Mit jedem Schritt wurde die buntgekleidete Menge in den engen Gassen dichter. An einer Straßenecke geriet sie in einen Verkehrsstau, weil eine Kuh mitten auf der Straße stehengeblieben war, um, unbeeindruckt vom Hupen eines Lastwagenfahrers, einen monumentalen Fladen zu hinterlassen. Als Ihre Heiligkeit schließlich den Weg freigab und gemächlich in eine Seitengasse trottete, fuhr der klapprige Lastwagen an und hüllte Giulia in eine schwarze Abgaswolke. Hustend wich sie ein paar Schritte zurück und trat dabei aus Versehen einen blinden Bettler, der an eine Hauswand gelehnt im Dreck saß und seine Hand ausstreckte. Kaum hatte sie dem alten Mann zur Wiedergutmachung einen kleinen Geldschein zugesteckt, musste sie erneut zur Seite springen, weil ein barfüßiger, unterernährter Lastenträger, der unter dem zentnerschweren Gewicht seines Bündels fast zusammenbrach, sich mit lauten Warnrufen einen Weg durchs Gedränge bahnte. Aus der Ferne drang die schrille Blasmusik einer Hochzeitskapelle herüber.
Madonna mia, dachte Giulia: Was für eine Stadt, was für ein erfrischendes Chaos. Sie überquerte einen namenlosen Platz mit einem Tempel, auf dessen Treppen Händler Teppiche und Lederwaren ausgebreitet hatten. Während sie sich vergeblich nach einem Geschäft umsah, das Briefmarken verkaufte, trat sie in die Überreste einer überfahrenen Ratte. In den Straßen von Kathmandu wurde die kleinste Unachtsamkeit unverzüglich bestraft. Gleich neben dem Kadaver kauerten einige Bäuerinnen am Boden und boten auf groben Tüchern Äpfel und Orangen an. Giulia rieb die Sohle ihrer Sandale beiläufig auf dem Pflaster sauber und beugte sich zu einer der Frauen hinunter, um ihr einen Apfel abzukaufen. Sie wischte ihn nur flüchtig an ihrem Sarong ab und biss mit Appetit hinein. Das Leben in Asien hatte sie unempfindlich gegen Schmutz und mangelnde Hygiene gemacht.
Die Gasse mündete auf den Asan Tole, einen zentralen Platz mit zwei hinduistischen Tempeln, dem elefantenköpfigen Ganesha und Annapurna, der Göttin des Überflusses, geweiht. Giulia lehnte sich mit dem Rücken an eine Hauswand, um für eine Weile dem Treiben zuzusehen, die Farben und Gerüche in sich aufzunehmen. Es war ein weiter Weg, der sie aus dem venezianischen Palazzo ihrer Kindheit in diesen Teil der Welt geführt hatte. Asien war ihre zweite Heimat geworden und würde ihr sehr fehlen, aber ihre Zeit im Osten war um.
Sie stieß sich von der Wand ab und tauchte wieder ins Getümmel der Straßen ein. Zehn Minuten später trat sie durch einen niedrigen Durchgang in einen großen, sonnenüberfluteten Innenhof, wo Frauen ihre Wäsche trockneten, Gemüse putzten oder in Ruhe beisammensaßen, um ein Schwätzchen zu halten. Die Intimität und Gelassenheit der Szenerie erinnerten Giulia an die Piazza eines italienischen Dorfes, und der Gedanke an ihr Heimatland schnürte ihr die Kehle zu.

 

Am anderen Ende des Hofs saß Paul im Schatten eines Baums, in der rechten Hand eine Tuschefeder, auf seinen Knien ein Zeichenblock. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er Giulia nicht wahrnahm, bis sie vor ihm stand und ihn ansprach.
„Ciao, Paolo.“
„Ciao, Giulia“, grüßte er zurück und sah sie mit seinen strahlend blauen Augen an.
Sie kniete sich neben ihn hin und küsste ihn leicht auf den Mund. Wie dünn er geworden ist, seit wir Rom verlassen haben, dachte sie. Pauls Gesicht, in dem das Leben bisher kaum Spuren hinterlassen hatte, wirkte weich und jungenhaft, seine schulterlangen, gewellten Haare verstärkten diesen Eindruck noch. Der äußere Schein täuschte nicht: Ihr Geliebter war schwärmerisch, sensibel und oft zu schwach, um sich den Härten des Lebens zu stellen. Wie sollte er verkraften, was sie ihm zu sagen hatte?
„Ich habe den Tempel im Hof hinter mir gezeichnet und bin schon beim zweiten Bild“, sagte er. „Dazwischen habe ich noch eine Skizze von einer Mutter mit ihrem Kind gemacht. Nicht schlecht, oder?“
Sie betrachtete die Bilder. Auch nach all den Jahren staunte sie immer noch über Pauls Talent. Sie kannte einige vielversprechende Künstler, allen voran Luca Manzoni, einen ihrer alten Freunde aus Rom, aber keiner von ihnen konnte sich mit Paul messen. Wenn Begabung sich tatsächlich durchsetzte, stand ihm eine große Karriere bevor.
„Gefallen sie dir?“
„Sie sind gut.“
„Ja, sie sind gut“, stimmte er zu. „Was hast du den Vormittag über gemacht?“
„Ich war in Svayambhunath und wollte die Aussicht auf die Berge genießen, aber es ist viel zu dunstig. Wusstest du, dass man an klaren Tagen von Venedig aus die Alpen sehen kann?“
„Nein, das wusste ich nicht.“
Paul sah auf das Blatt Papier und entfernte mit dem kleinen Finger vorsichtig ein Haar von der Zeichnung.
„In letzter Zeit sprichst du häufig von Italien. Hast du Heimweh?“
„Heimweh? Nein, ganz bestimmt nicht.“
Sie setzte sich neben ihn auf den Boden. Ein alter Mückenstich in ihrem Nacken juckte, und sie kratze die Stelle ausgiebig.
„Ich habe lange nachgedacht. Über unser Leben hier in Asien.“
„Hast du keine Lust mehr zu reisen?“, fragte er alarmiert.
Er hatte Angst, sein Leben ändern zu müssen, sie konnte es in seinen Augen sehen. Wenn du wüsstest, was auf dich zukommt, dachte sie niedergeschlagen. Wie soll ich es dir beibringen, ohne alles kaputtzumachen? Es war nicht fair, dass er für ihre Lügen leiden musste, doch es ließ sich nicht vermeiden.
„Gefällt Asien dir nicht mehr?“, hakte er nach.
„Oh doch. Wie könnte es mir nicht gefallen? Ich bin glücklich hier, unter richtigen Menschen mit echten Gefühlen. Nicht wie meine Familie.“
Ihr Blick folgte einer vom Alter gebeugten Frau, die quer über den Platz ging, ein totes Huhn unter dem Arm. Giulia dachte an den Morgen, an dem sie in einem Dim-Sum-Restaurant in Penang aus Versehen Hühnerfüße bestellt hatten. Paul hatte sich geschüttelt, als er viel zu spät begriff, worauf er herumkaute. Inzwischen würde es ihm nichts mehr ausmachen.
„Ich werde nie vergessen, was für wunderbare Dinge wir gemeinsam erlebt haben“, sagte sie.
„Warum sprichst du in der Vergangenheit? Ist es denn schon vorbei?“
„Wir sind doch hier in Nepal. Wie könnte es vorbei sein?“
Paul lächelte. Typisch für ihn, dass er sich mit einer derart ausweichenden Antwort zufrieden gibt, dachte sie. Er war erwachsener geworden in Asien, neigte aber immer noch dazu, Probleme einfach zu ignorieren. Sie legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Das Pflaster war angenehm warm, doch Giulia fröstelte, als sie an den Brief in ihrer Tasche dachte. Sie öffnete ihre Augen wieder und sah traurig zum Himmel. Er war grau und leer.

 

Der Nepali brachte zwei Teller mit dampfenden Momos, tibetischen Teigtaschen, die Paul so liebte, und stellte sie auf den wackligen Holztisch, an dem sie Platz genommen hatten. Paul machte sich über seine Portion her, als hätte er seit Tagen nichts zu essen bekommen. Giulia hingegen schob ihren Teller beiseite und sah zu, wie die Sonne hinter dem Rand des Tals unterging. Nicht mehr lange, und es würde dunkel sein. Als sie daran dachte, wie bald auch ihr freies, unbeschwertes Leben ein Ende finden würde, verlor sie den Appetit.
„Willst du meine Momos haben?“
„Ich dachte, du hast Hunger?“
„Dachte ich auch.“
„Was ist los mit dir?“
„Mir geht so vieles durch den Kopf.“
„Was denn zum Beispiel?“
Sie zuckte mit den Schultern. Wo sollte sie beginnen?
„Erinnerst du dich an Varanasi?“, fragte sie schließlich.
Bevor sie nach Kathmandu gekommen waren, hatten Giulia und Paul zwei Wochen in der heiligen Stadt am Ganges verbracht. Sie hatten in der Nähe des Ghats gewohnt, auf dessen breiten Treppen hinunter in den Fluss bei Tag und Nacht Leichen verbrannt wurden. Ständig hatte ein schwerer, süßlicher Geruch in der Luft gehangen, und manchmal hatte der Südwind klebrige Ascheflocken durch das geöffnete Fenster in ihr Zimmer getragen. Paul hatte den Anblick der Kranken und Sterbenden kaum ertragen und war erleichtert gewesen, als sie die Stadt endlich verließen. Auf Giulia hatte Varanasi eine ganz andere Wirkung gehabt. Obwohl sie zuvor noch nie einen Toten gesehen hatte, wohnte sie sogar freiwillig einer Einäscherung bei. Es hatte sie große Überwindung gekostet, zuzuschauen, wie der Leichnam des Mannes über Stunden hinweg vom Feuer verschlungen wurde, wie seine Knochen in der Hitze ächzten und knackten und schließlich der Schädel aufplatzte, aber gleichzeitig war das Erlebnis für sie eine Offenbarung gewesen.
„Wenn ich sterbe, möchte ich auch verbrannt werden“, sagte sie. „Es ist wie eine Reinigung, die einen von allen Sünden und Lügen befreit.“
„Ich dachte, du möchtest in Lamalera begraben sein?“
Paul nutzte die Gelegenheit, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Am liebsten hätte er Varanasi aus seinem Gedächtnis verbannt, das Elend, die Flammen und den Tod.
„Stimmt. Ich bin nie so glücklich gewesen wie in Lamalera. Dort würde ich meine Ruhe finden.“
„Wir können jederzeit wieder hinfahren, wenn du es möchtest.“
„Nein. Irgendwann werde ich dorthin zurückkehren, aber nicht jetzt“, sagte sie und verfiel in nachdenkliches Schweigen.
Nachdem Paul auch die zweite Portion aufgegessen hatte, wischte er sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Mund ab.
„So, und was machen wir jetzt? Wollen wir nach Hause gehen?“
„Ja. Aber lass uns auf dem Weg noch ein paar Briefmarken kaufen.“
„Wem hast du geschrieben? Veronika?“
„Nein, Vincenzo. Ich möchte den Brief unbedingt heute noch einwerfen.“

 

Sie wohnten in der Annapurna Lodge, eine der besseren Unterkünfte in der Freak Street, Kathmandus alter Hippiehochburg. Die Decke ihres spartanisch eingerichteten Zimmers war so niedrig, dass Paul sich regelmäßig den Kopf am Türrahmen anschlug, dafür war es billig und hatte dicke Wände, die im Winter die Kälte und im Sommer die Hitze fernhielten.
Draußen in den Straßen war es still. Die Nacht war längst hereingebrochen, und Kathmandu ging früh schlafen. Giulia lag neben Paul auf dem Bett und rauchte bereits ihre zweite Zigarette.
„Was ist los? Macht Sex dich neuerdings nervös?“, scherzte er.
Sie drehte den Kopf zu ihm, ohne etwas zu sagen. Dann blickte sie wieder zur Decke.
„Bist du sauer? Hat es dir nicht gefallen?“
„Was soll der Blödsinn? Natürlich hat es mir gefallen“, sagte sie gereizt.
Als Paul betroffen schwieg, bereute sie ihren Ausbruch sofort.
„Ich bin traurig“, murmelte sie.
„Warum? Stimmt etwas nicht mit uns?“
„Nein, das ist es nicht. Zwischen uns ist alles in Ordnung, aber wir sind nicht allein auf der Welt. Es wird Zeit, dass wir erwachsen werden und die Verantwortung für unser Leben übernehmen.“
„Was meinst du damit?“
Giulia seufzte leise. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie sprach. Wie sollte sie anfangen? Sie setzte sich im Bett auf.
„Lass uns spazieren gehen“, bat sie. „Ich habe dir einiges zu sagen.“

 

Der Durbar-Platz war still und menschenleer. Über dem alten Königspalast hing ein großer, ausgeblichener Mond und tauchte die mittelalterlichen Gebäude in weiches Licht. Giulia allerdings nahm die Romantik des Orts nur gedämpft, wie aus weiter Ferne wahr. Sie ergriff Pauls Hand und zog ihn hinter sich her, auf die unterste Stufe des zentralen Tempels.
„Habe ich mich sehr verändert, seit wir Rom verlassen haben?“, fragte sie.
„Und ob. In Rom hast du allein für den Friseur mehr Geld ausgegeben, als du jetzt zum Leben brauchst.“
Seine oberflächliche Antwort enttäuschte sie. Merkte er denn nicht, wie wichtig es ihr war? Manchmal hatte sie den frustrierenden Eindruck, dass seine Ernsthaftigkeit allein der Malerei vorbehalten war.
„Ich meine innerlich, Paolo. Als Mensch.“
Er schwieg lange, bis er die richtigen Worte gefunden hatte.
„Du bist viel ruhiger geworden, und toleranter. Du freust dich über Dinge, die dir früher nichts bedeutet haben. Du hast gelernt, Unannehmlichkeiten hinzunehmen, ohne dich zu beschweren. Und du bist anderen Menschen gegenüber freundlicher geworden.“
Giulia verzog den Mund und studierte gedankenverloren die Hornhaut an ihren Füßen. Seit sie nach Asien gekommen war, ging sie viel barfuß.
„Stimmt das wirklich? Dann muss ich früher abscheulich gewesen sein“, sagte sie tonlos.
„So habe ich es nicht gemeint.“
„Entschuldige dich nicht für die Wahrheit. Ich bin heilfroh, dass du nicht so verlogen bist wie meine Familie.“
Sie trat nach einem Kieselstein. Er sprang davon und scheuchte eine Ratte auf, die in wilder Flucht quer über den Platz davonhuschte.
„Oder wie ich“, fügte sie hinzu und stand auf. „Komm, gehen wir weiter.“
Er folgte ihr schweigend durch die nächtliche Stadt, bis sie in ein ärmliches, ihnen unbekanntes Viertel kamen. Vor ihnen öffnete sich ein Platz mit einem hohen Tempel in der Mitte, dessen Umrisse sich scharf im hellen Mondlicht abzeichneten. Am Rand des Platzes entdeckte Giulia einen Briefkasten. Kurz entschlossen nahm sie den Brief aus ihrer Tasche und warf ihn ein, dann lehnte sie sich mit dem Rücken an die Hauswand daneben, verschränkte die Arme vor der Brust und holte tief Luft.
„Ich muss zurück nach Italien“, sagte sie.
„Nach Italien?“, fragte Paul ungläubig. „Was willst du denn da? Hast du kein Geld mehr?“
„Das ist es nicht.“
„Dann sag mir endlich, was es ist“, drängte er gereizt. „Den ganzen Tag schon redest du um den heißen Brei herum, während ich wie ein Trottel hinter dir herlaufe.“
Giulia nickte stumm. Paul hatte recht: Es war an der Zeit, ihm endlich die Wahrheit zu sagen.
„Ich habe einen Scherbenhaufen hinterlassen, als wir aus Italien weggegangen sind. Damals war es mir gleichgültig, aber jetzt ist es nicht mehr so. Auf unserer Reise habe ich eingesehen, wie wichtig Ehrlichkeit ist. Ich will endlich ein aufrichtiges Leben führen.
„Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst.“
Natürlich nicht, dachte sie und brach in Tränen aus. Wie solltest du auch, nachdem ich dich die ganze Zeit belogen habe?
„Ich habe mich gedrückt, Paolo“, schluchzte sie. „Vor der Wahrheit und ihren Konsequenzen.“
„Ich kann nicht zurück nach Italien! Hast du das vergessen?“
„Nein, ich habe es nicht vergessen“, flüsterte sie, am ganzen Körper zitternd. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie alles bereits Gesagte zurückgenommen, doch das Messer war angesetzt, es gab kein Zurück.
„Verlass mich nicht. Das würde ich nicht aushalten.“
Paul war kreidebleich, als er ihre Hand nahm und drückte. Angst überzog ihn wie eine zweite Haut.
„Ich will dich nicht verlassen“, versicherte sie. „Im Gegenteil: Ich brauche deine Hilfe. Falls du mir verzeihen kannst.“
„Was soll ich dir verzeihen?“
„Lass uns dort hinaufgehen“, bat sie mit einem Blick auf den Tempel. „Ich muss mich setzen.“
Paul ging voran, Giulia folgte ihm mit unsicheren Schritten die steilen Stufen hinauf. Wie üblich gab es kein Geländer. Kurz bevor sie die obere Plattform erreicht hatten, wurde die Tür des Tempels von innen aufgestoßen und ein schmächtiger Mann trat heraus. Mit gesenktem Kopf hastete er zur Treppe, schnurstracks auf Paul zu, der abwehrend die Hände ausstreckte.
„Immer schön langsam“, rief Paul, „sonst fallen wir am Ende noch die Treppe hinunter.“
Der Mann, ein Europäer um die vierzig, fuhr erschrocken zusammen, als er die beiden erblickte. Wie ertappt stolperte er einen Schritt zurück, und Giulia sah, dass er ein in Stoff gewickeltes Bündel an die Brust gepresst hielt. Auch sein Gesicht war im Schein des Mondes gut zu erkennen: der schmale Oberlippenbart, eine scharf geschnittene Nase und wässrige, nervös flackernde Augen.
„Was wollen Sie von mir?“, rief er auf Englisch. Er hatte einen ausgeprägten britischen Akzent.
„Gar nichts“, sagte Paul und hob beschwichtigend die Hände. „Wir machen nur einen Spaziergang.“
„Dann sehen Sie zu, dass Sie sofort hier verschwinden und mich in Ruhe lassen“, zischte er mit der Verzweiflung eines in die Ecke gedrängten Nagetieres.
„Sie haben mir gar nichts zu sagen“, fauchte Paul zurück. „Was haben Sie da eigentlich im Arm? Geraubte Tempelschätze?“
Giulia wusste, dass Paul den Mann nur provozieren wollte und es nicht ernst meinte, doch der Engländer schnappte hörbar nach Luft und erbleichte. Im nächsten Moment machte er einen Satz nach vorn und versetzte Paul, der noch immer auf der vorletzten Stufe stand, einen heftigen Stoß vor die Brust. Der Angriff kam so überraschend, dass Paul das Gleichgewicht verlor und wild mit den Armen rudernd nach hinten fiel. Giulia versuchte ihn aufzufangen, aber er riss sie mit sich, und sie stürzten rückwärts die steile Treppe hinunter.
Der kurzen Schwerelosigkeit des Falls folgte eine harte Landung. Giulia schrie gellend auf, als die Wucht des Aufpralls ihre rechte Schulter zerschmetterte. Bruchteile einer Sekunde später landete Paul auf ihr. Sie spürte noch, wie das Gewicht seines Körpers ihren Hals über die Kante einer Treppenstufe zurückbog, dann waren die Schmerzen vorüber.

 

Klick nach oben

 

 

 

 

© 2009 Jan Winter, Impressum und rechtliche Hinweise